Lieben statt urteilen

“Der Typ hat lange Haare, der ist sicher ein bisschen komisch”, “Diese Frau teilt meine Religion nicht, das ist falsch”, “Dieser Mann fährt ein riesiges Protzauto, der hat sicher etwas zu kompensieren. Je kleiner sein Johannes, desto grösser ist schliesslich das das Auto eines Mannes”, “Ich habe wieder versagt, ich bin so schlecht”.

Kennst du solche Gedanken? Leider kann ich mich nicht gerade rühmen, denn ich war schon immer sehr gut darin, zu urteilen. Es wird mir in letzter Zeit aber vermehrt bewusst, wenn ein Teil von mir wieder irgendein Urteil abgibt. Und dann stelle ich mir die Frage: Warum urteile ich so? Woher kommt das? Was für Vorteile verspreche ich mir davon (unbewusst natürlich)? Und wie kann ich anders denken?

Warum urteilen wir?

Urteilen ist etwas Unschönes. Besonders, wenn es ein ver-urteilen ist.
Doch warum (ver-)urteilt der Mensch?

Urteilen als Einordnung

Ich denke, in erster Linie und in seiner unschuldigsten Form ist ein Urteil eine Einordnung. Um nicht zu viel unseres kleinen Anteils an bewusstem Denkvermögen zu verbrauchen, versucht das Hirn möglichst viel zu automatisieren und ins unbewusste Denken und Handeln zu schieben. Nur so können wir im Fall eines Angriffs eines Höhlenbären schnell genug handeln und davonrennen, ohne erst bewusst analysieren zu müssen, ob der Bär wirklich hungrig ausschaut. Wir haben in der Vergangenheit gelernt, Bären grundsätzlich als gefährlich einzustufen und loszurennen.
Das Hirn vereinfacht also, was es wahrnimmt, und teilt die Dinge in Kategorien ein. Dies passiert aufgrund von Erfahrungen, die wir gemacht haben oder aufgrund einer Aussage von jemandem. Es ist nämlich besser, keine direkten Erfahrung mit Höhlenbären zu sammeln, sondern dem Vater zu glauben, wenn er sagt, Höhlenbären seien zu meiden.

Urteilen für ein Zusammengehörigkeitsgefühl

Urteilen kann aber auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bilden. Indem gewisse Menschen ver- oder beurteilt werden, grenzen wir uns von ihnen ab, um uns im Gegenzug mit anderen Menschen, die gleich urteilen, verbundener zu fühlen. Dies passiert in Religionen, beim Sport, bei nationalistischen Denken. Leute bewerten gewisse Universitäten oder Studiengänge, gewisse Berufsgattungen oder Ernährungsweisen als besser oder schlechter als andere. Und fühlen so gleichzeitig ein Wir-Gefühl mit anderen Leuten, welche dieselbe Uni, denselben Studiengang besucht haben und dieselbe Ernährungsweise pflegen wie sie selbst.

Urteilen, um sich besser zu fühlen

Obiger Punkt ist sehr eng verknüpft und wohl kaum zu trennen von einem weiteren Grund: Sich besser fühlen als andere. Wer andere beurteilt tut das aus einer (scheinbaren) Position der Macht. Die Frau, die wir verurteilen dafür, dass sie sich nicht vegan ernährt, wird nur deshalb dafür verurteilt, damit wir uns besser fühlen als sie. Wir haben natürlich die bessere Universität besucht als der Nachbar und unser höherer Abschluss ist mehr wert als derjenige unseres Mitarbeiters. Unser Auto ist kleiner als dasjenige des Kollegen, weil wir es nicht nötig haben (da körperlich gut ausgestattet).

Urteilen aus Angst oder einer Opferhaltung

Manchmal sind Urteile aber auch gegen uns gerichtet. Wir verurteilen uns selbst. Etwa, weil wir denselben Fehler immer und immer wieder machen, weil wir die schlechtere Uni besucht haben als der Nachbar, unser Mitarbeiter einen höheren Abschluss hat oder wir uns kein so grosses und teures Auto leisten können wie der Mitarbeiter (obwohl wir körperlich etwas zu kompensieren hätten). Die Gründe sind vielschichtig und ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen, denn das würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Doch in solchen Fällen kommt das Urteil aus Neid, aus Angst, aus einem geringen Selbstwertgefühl, aus einer Opferhaltung. Auch davon versprechen wir uns einen Vorteil. Entweder, weil wir aus der Angst heraus urteilen, was zum Ziel hat, das, wovor wir Angst haben, zu vermeiden. Oder weil wir in der Opferhaltung jegliche Verantwortung abgeben und die Schuld an unserem miesen Leben dem Schicksal oder wem auch immer in die Schuhe schieben.

Urteilen schadet

Egal, was der Grund ist, dass ein Urteil gefällt wird; in aller Regel, wenn es uns nicht gerade davor bewahrt, als Nachmittagssnack eines Höhlenbären zu enden, bringt es nur Schaden.

Ein Urteil kann zunächst dem Beurteilten schaden. Wenn ein Mann mit langen Haaren den Job nicht bekommt, für den er bestens qualifiziert wäre. Wenn eine Frau aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keinen Anschluss in der Nachbarschaft findet. Wenn ich mir nicht erlaube, Fehler zu machen und dadurch zu lernen, wenn ich mich stattdessen miserabel und wertlos fühle, wenn mir ein Fehler unterläuft.

Es schadet aber auch dem Urteilenden selbst. Vielleicht fühlt er sich besser, weil er die richtige Nationalität hat, den höheren Abschluss, den angeseheneren Beruf. Eine auf solche Weise entstandene Befriedigung ist aber immer nur sehr kurzlebig. Auf der anderen Seite hat ein negatives Urteil immer eine negative Energie. Wer negative Dinge denkt oder sagt, hält sich in diesem Moment in der entsprechenden Energie auf. Und das schadet.

Die Alternative: Liebe

Was können wir also tun, um vom Urteilen wegzukommen? Die Antwort ist einfach: lieben.

Liebe den Höhlenbären – nachdem du weggerannt bist :oP
Nein, natürlich bezieht sich das jetzt vor allem auf diejenigen Fälle, in denen ein Urteil schadet.

Lieben für ein Zusammengehörigkeitsgefühl

Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bildet sich sogar noch viel intensiver, wenn es auf Liebe basiert statt auf Abgrenzung. Liebe diejenigen, mit denen du dich zusammengehörig fühlst / fühlen willst, statt die anderen schlecht zu machen. Wenn du auch die anderen liebst, die, die du vorher verurteilt hast, wirst du merken, dass auch sie dazugehören. Und es wird sich gut anfühlen.

Lieben, um die Angst zu besiegen

Stelle dich der Angst, die dich urteilen lässt. Stelle dich dem Neid und dem Schmerz, der das geringe Selbstwertgefühl mit sich bringt. Liebe dich trotzdem und liebe diejenigen, die du sonst aus dieser Angst, diesem Neid, diesem Schmerz verurteilen würdest. Sie können ja überhaupt nichts dafür, dass du Angst hast, sie beneidest oder du dich minderwertig fühlst. Sie haben dir nichts getan. Was du fühlst, kommt aus dir und du allein bist dafür verantwortlich, was du fühlst. Wenn du diesen Menschen Liebe entgegen bringst, wirst du merken, dass sie dir nicht gefährlich sind. Und du fühlst dich automatisch besser, denn du bist in der positiven Energie der Liebe. Weil das Leben genau das ist, was du daraus machst, weil du die Gefühle hast, die du fühlst, wird dein Leben in einem solchen Moment aus Liebe bestehen.

Lieben, um von der Opferhaltung wegzukommen

Wenn dir bewusst wird, dass du jemanden oder eine Situation beurteilst, kannst du davon für dich selbst sehr profitieren. Ist das Urteil negativ behaftet? Woher kommt das Urteil, wer denkt so? Hat dir deine Mutter mal gesagt, Männer mit langen Haaren seien entweder Jesus oder böse? Hat dir dein Vater zu spüren gegeben, nur Leute mit hohem Universitätsabschluss seien wertvoll? Was hat ein solches Urteil also mit dir oder mit der Realität zu tun? Nichts! Deshalb kannst du auch gut darauf verzichten.
Oder kommt das Urteil von dir, aus einer Erfahrung, die du selbst gemacht hast? Dann überlege dir, ob es gerechtfertigt ist (weil du wirklich keine Lust hast, nochmals die Tatze des Höhlenbären über deinen Rücken schrammen zu fühlen) oder ob es aus einer Angst, einer Opferhaltung oder aus Neid heraus entspringt. Dann kannst du beginnen, dich der Angst zu stellen, sie zu verarbeiten und zu heilen. Es kann dir zeigen, dass du die Verantwortung für dein Leben übernehmen sollst. Du kannst dir bewusst werden, was deine Ziele sind, was du gerne hättest. Und dann ins Handeln kommen, um diese Ziele zu erreichen.

Lieben statt urteilen

Es lohnt sich also in vielerlei Hinsicht, sich darin zu üben, zu lieben statt zu urteilen. Wer urteilt, schadet dem verurteilten und sich selbst. Wer liebt hingegen, tut sich und allen Gutes.

Ich verschenke deshalb auf der Strasse vermehrt ein Lächeln, ich akzeptiere es, wenn Leute etwas tun oder haben, das ich bisher verurteilt habe. Das ist nicht so einfach, aber es geht immer besser und es tut mir gut.

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