Niemand will verletzt werden. Also will auch niemand verletzlich sein. Denn verletzlich zu sein bedeutet, dass die Gefahr, verletzt zu werden, erhöht ist.
Um diese Gefahr möglichst klein zu halten, haben wir im Laufe unseres Lebens unterschiedliche Strategien entwickelt. Wir hängen den Macker raus, vertuschen unsere Unsicherheit mit Grossspurigkeit oder Ablenkungsmanövern, wir verschweigen Dinge, gehen zum Angriff über, werden perfektionistisch oder abweisend, wir lassen keine Nähe zu, passen uns übermässig an oder grenzen uns übertrieben ab. So unterschiedlich diese Verhaltensweisen erscheinen mögen, so haben sie doch alle eines gemeinsam: Sie entspringen aus der Angst vor Schmerz. Doch Angst ist, wenn es sich nicht um eine wirklich lebensbedrohliche Situation handelt (was sehr selten der Fall ist), immer ein schlechter Ratgeber.
Ein Beispiel
Nehmen wir als Beispiel einen Mann, der das Gefühl hat, im Beruf nicht genügend zu wissen und zu können. Er hat Angst davor, jemand könne das bemerken und gegen ihn verwenden. Er hat Angst, ausgelacht zu werden oder gar seine Stelle zu verlieren. Sein aus seiner Sicht ungenügendes Wissen macht ihn verletzlich.
Was für Auswirkungen könnte diese Angst nun auf das Leben dieses Mannes haben?
Nehmen wir an, seine Strategie sei Vermeidung. Wann immer er sich und sein „Geheimnis, dass er ja in Wirklichkeit nicht gut genug ist“ bedroht sieht, lenkt er ab. Er sieht zu, dass ihm nur solche Aufgaben zugeteilt werden, von denen er sicher weiss, dass er sie lösen kann. Um neue Herausforderungen drückt er sich mit immer neuen, kreativen Ausreden. Er vermeidet es, Neues zu lernen – er könnte dabei auffliegen, weil er den neuen Stoff vielleicht nicht begreift.
Als Folge bleibt er in seiner Weiterbildung stecken, versucht auch neue Aufgaben mit dem alten, bereits vorhandenen Wissen zu lösen und kommt dadurch allenfalls nicht weiter. Dies wiederum bestätigt ihn in seiner Selbsteinschätzung.
Wann bist du wirklich verletzlich?
Vielleicht erkennst du dich in obigem Beispiel wieder. Versuche trotzdem (oder genau dann!) einen Schritt zurück zu machen und frage dich, ob der Mann vernünftig handelt. Ob er durch sein Verhalten eine reelle Gefahr vor Verletzung minimiert.
Wahrscheinlich kommst du zum Schluss, dass dies nicht der Fall ist. Warum? Es gibt mehrere Gründe dafür: Er blockiert sich selbst, Neues zu lernen und zu wachsen. Wahrscheinlich bildet er sich nur ein, nicht genug zu können oder er vergleicht sich mit einem Mitarbeiter, der immer betont, was er selbst alles kann (was eine andere Strategie gegen dieselbe Angst sein könnte).
Vor allem frage ich dich aber: Ist der Mann, selbst wenn wir annehmen, dass ihm einiges Wissen und Können fehlt, wirklich deswegen verletzlich? Macht ihn nicht vielmehr gerade seine Angst davor, verletzt zu werden, erst verletzlich?
Ich finde, dies ist der Schlüssel: Erst deine Angst, verletzlich zu sein, macht dich verletzlich.
Erst die Erwartung eines Schmerzes öffnet einem solchen überhaupt erst die Tür zu dir.
Denn was dich in Wirklichkeit verletzlich macht, ist diese Angst selbst.
Erlaube dir, verletzlich zu sein
Die logische Konsequenz, die wir aus dieser Beobachtung ziehen können und müssen, ist es also, keine Angst vor Verletzung mehr zu haben. Lass deine Verletzlichkeit zu, akzeptiere sie. Akzeptiere deine Herausforderungen und verurteile sie und dich nicht.
Das ist nicht einfach, denn oftmals ist es Teil unserer Strategie, die vermeintliche Schwäche auch vor uns selbst zu verstecken. Wir bauen den Schutzwall nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen.
Doch versuche, ehrlich zu sein zu dir und deine verletzliche Seite zuzulassen. Du wirst deswegen nicht verletzlicher oder gar verletzt, nur weil du es nicht mehr vor dir versteckst. Zunächst ist nämlich gar nichts anders, ausser, dass dir nun bewusst ist, was sowieso schon war.
Vor der Reaktion zu Aktion
Wenn du allen „Schutz“ loslässt und deine Verletzlichkeit zulässt, passiert etwas Wunderbares. Der Fokus wechselt von der Erwartung von etwas Schlimmem von aussen zu dir selbst und deinem Inneren. Und auf das, was du machen kannst.
Wenn du nicht mehr im Modus „uuuh Achtung, jemand könnte etwas bemerken und mich dann verletzen“ bist, sondern im „hey, ich weiss, dass ich da vielleicht eine Herausforderung habe und ich akzeptiere das“, dann bist du nicht mehr in der Verteidigung (Reaktion), sondern im Handeln (Aktion). Durch die Akzeptanz verlierst zu die Verletzlichkeit. Denn du verurteilst dich nicht mehr dafür. Somit können andere tun und sagen, was sie wollen, es verletzt dich nicht mehr.
Der Mann aus dem Beispiel muss sich nicht mehr ertappt fühlen, wenn jemand bemerkt, dass ihm das Wissen zu einem spezifischen Thema fehlt. Weil er seine Verletzlichkeit zugelassen und akzeptiert hat, dass er nicht alles wissen kann, ist es ihm schon bewusst, und zwar, ohne dass er sich deswegen verurteilt. Er hat es ja akzeptiert.
Er kann nun in die Handlung kommen. Er kann einen Kurs besuchen zu dem Thema oder einen Arbeitskollegen bitten, es ihm zu erklären. Er könnte sich bewusst und absichtlich ein Projekt oder eine Aufgabe aussuchen, für die ihm Wissen fehlt und die ihm vielleicht ein wenig Angst macht. Statt unauffällig wegzusehen und zu hoffen, dass ihn niemand bemerkt, wenn eine solche Aufgabe jemandem zugeteilt werden soll, kann er sich freiwillig melden und seinem Team sagen, dass er etwas Neues lernen möchte. Er kann sagen, dass ihm bisher das Wissen noch fehlt und er nicht sicher weiss, ob er es alleine lösen kann. Aber das ist ja nicht schlimm, es gibt sicher jemanden, der ihm notfalls hilft.
Indem er so handelt, bringt er sich selbst dazu, Neues zu lernen und auch gleich anzuwenden. Er teilt seinem Team von sich aus mit, dass ihm das Wissen dazu bisher fehlt. Gleichzeitig signalisiert er aber, dass er bereit ist, zu lernen. Niemand wird nun einen blöden Spruch fallen lassen (und wenn doch, dann ist das eher peinlich diese Person). Und schlussendlich wird der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach die Aufgabe erfolgreich abschliessen können und eine positive Erfahrung sammeln, die ihm hilft, weitere Mal wieder so mutig zu sein. Nach und nach verliert er die ursprüngliche Angst vor der Verletzung. Er ist nicht mehr verletzlich. Er ist stark.
Weitere Beispiele
Auch wenn ich oben nur ein Beispiel beleuchtet habe, funktioniert das natürlich in allen möglichen Situationen, in denen du dich verletzlich fühlst.
Ein klassisches Beispiel ist etwa, wenn du in einer Partnerschaft Angst hast, verletzt zu werden. Ein zentraler Punkt in einer Partnerschaft ist es, einander zu vertrauen und sich so zeigen zu dürfen, wie man wirklich ist. Dies empfinden viele Leute so, dass sie sich verletzlich machen. Doch ich bin auch da der Meinung, dass man nur verletzlich ist, wenn man Angst hat davor, verletzt zu werden. Wenn du zulässt, dass der Partner dich gut kennt, inklusive wunder Punkte, so kommst du auch da wieder von der (ängstlichen) Erwartung in die innere Stärke. Nach einem ersten Gefühl von Schmerz, wenn dein Partner einen deiner wunden Punkte gegen dich auszuspielen versucht, bist du dankbar dafür, dass er dir aufgezeigt hast, wo du noch wachsen kannst. Und weil du dich nicht verteidigen musst, kannst du eine viel sachlichere Diskussion führen als wenn du gleich zum Gegenangriff übergehst. Es kann aber auch sein, dass ihr euch überhaupt nicht (mehr) versucht, bei Unstimmigkeiten gegenseitig zu verletzen, weil dein Partner weiss, dass du dich nicht reizen lässt und du dich durch die Unstimmigkeit auch nicht angegriffen fühlst und verteidigen musst.
Erlaubst du dir also, in einer Partnerschaft verletzlich zu sein, so öffnest du dich dafür, Nähe zuzulassen. Die beste Grundlage für eine erfüllende Partnerschaft!
Als letztes Beispiel möchte ich eine weitere, ganz andere Situation beleuchten. Ich beobachte immer wieder Menschen, die verzweifelt versuchen, nicht fotografiert zu werden. Sie denken, sie sähen nicht gut aus und möchten das auf keinen Fall für die Ewigkeit festgehalten wissen. Sobald in ihrer Nähe eine Kamera auftaucht und die Frechheit besitzt, sich auf sie zu richten, reagieren solche Leute so, dass sie wegschauen, sich abdrehen, sich irgendwas vor das Gesicht halten, abwinken oder sehr empört oder gequält doch in die Kamera schauen. Die Folge davon sind Bilder, bei denen ihr Unbehagen sofort ersichtlich ist. Wenn etwas „doof“ oder unfotogen aussieht auf einer solchen Foto, dann nicht eine solche Person an sich, sondern ihre Haltung. Vielleicht setzt sich jemand auch durch und es gibt über Jahre keine Fotos von dieser Person, die man später ansehen und seinen Enkeln oder Freunden zeigen kann. Beides finde ich schade.
Was passiert da? Betrachten wir die Frau, die sich sich verletzlich fühlt, weil sie denkt, nicht fotogen zu sein und dann auf Fotos doof auszusehen. Leute könnten lachen, weil sie immer die Augen geschlossen hat, weil einige Haare abstehen, sie sich zu dick fühlt oder sie beim Essen mit offenem Mund abgelichtet wurde.
Doch wenn sie sich erlaubt, verletzlich zu sein, wird sie stark. Sie bemerkt, dass auch andere keine Fotomodell-Ausbildung haben und manchmal mit geschlossenen Augen, abstehenden Haaren oder offenem Mund abgebildet werden. Das ist nicht schlimm, es gehört nun mal zum Leben, manchmal zu blinzeln oder zu essen oder den Wind in den Haaren zu spüren. Es ist kein Problem, nicht alle Fotos zu behalten, sondern nur gute. Fotografen schiessen hunderte Fotos ihrer Motive, bis sie mit einem zufrieden sind. Wenn die Frau auf einem Bild den Mund offen hat, weil sie ein Stück des köstlichen Geburtstagskuchens geniesst, so kann sie sich später daran erinnern und darüber lachen. Wenn sie zulässt, fotografiert zu werden, muss sie es nicht mehr abwehren, sondern kann sagen „kurzen Moment bitte, ich habe gerade noch ein Stück Kuchen im Mund!“ und danach lächelnd in die Kamera blicken. So entstehen einige Fotos, auf denen sie nicht optimal abgebildet ist, aber viele Fotos, bei denen ihr ehrliches Lächeln auffällt. Und ehrliches Lächeln ist immer fotogen!
Fazit
Das Thema lässt sich prägnant zusammenfassen.
Wenn du denkst, etwas mache dich verletzlich, dann ist es in Wirklichkeit diese Einschätzung, diese Angst vor einer Verletzung, die dich verletzlich macht. Wenn du davon wegkommst, dich vor einer Verletzung deswegen zu „schützen“, und stattdessen die Verletzlichkeit akzeptierst und nicht mehr verurteilst, so lässt du im Grunde die Angst vor einer Verletzung los. Du hast es akzeptiert und verurteilst dich nicht mehr deswegen. So kann dir niemand mehr ernsthaft weh tun (mache dir auch nochmals bewusst, dass es nicht möglich ist, von aussen verletzt zu werden; Schmerz ist immer eine innere Reaktion auf etwas an sich Neutrales, das aussen passieren mag). Stattdessen hast du die Energie, die du vorher in den Schutz investiert hast, wieder für konstruktiveres Verhalten zur Verfügung. Zum Beispiel, um das, weswegen du dich vorher verletzlich gefühlt hast, anzupacken und nach deinen Wünschen zu ändern.
Du kommst also von der Reaktion in die Aktion, du machst die Erfahrung, dass dir niemand weh tun kann und du die Kraft und die Macht hast, dein Leben selbst so zu gestalten, wie du willst.
Wenn du dir erlaubst, verletzlich zu sein, kommst du in deine Stärke.