Asexualität

Kürzlich ist mir etwas völlig Unerwartetes passiert. Aus heiterem Himmel habe die Antwort auf ein 15-20 Jahre altes Rätsel gefunden. Etwas, das mir bisher diffus als «etwas ist bei mir anders» bewusst war, hat einen Namen bekommen. Mit dem Namen kommen die Worte, um mein Erleben und Fühlen zu beschreiben. Mit den Worten kommen das Bewusstsein und das Verständnis. Und mit dem Bewusstsein und dem Verständnis kommt die Macht, meine Entscheidungen so zu treffen, wie es für mein Leben stimmt.

Da wir Menschen alle unterschiedlich sind, liegt es in der Natur der Sache, dass wir alle irgendwo «anders» sind als der Durchschnitt. Manchmal ist es uns bewusst, manchmal nicht. Manchmal sind wir stolz darauf, manchmal leiden wir darunter, manchmal ist es uns egal. Ich selbst bin in vielerlei Hinsicht «anders». Einer der Bereiche, in dem das so ist, ist meine Sexualität. Das war mir schon lange klar und in letzter Zeit, etwa in den letzten 10 Jahren, habe ich darunter auch gelitten. Vor allem unter der Tatsache, dass ich nicht wusste, WAS denn mit mir nicht stimmt.

Doch nun hat das Anderssein einen Namen und ich weiss, dass mit mir sehr wohl alles stimmt. Ich bin einfach asexuell.

Ich schreibe diesen Artikel zum einen Teil, weil mich die Thematik beschäftigt und mir durch das Schreiben wahrscheinlich nochmals einiges klarer wird. Vor allem aber, weil Asexualität in der Gesellschaft eine viel geringere Sichtbarkeit hat als andere sexuelle Orientierungen und es wenig deutsche Artikel darüber gibt.

Was ist Asexualität?

Die vorherrschende Vorstellung von Asexualität ist diejenige der extremsten Form davon und somit ungenügend. Es wird vorwiegend angenommen, dass eine asexuelle Person jemand ist, der keinen Sex will und hat und auch keine Erregung empfinden kann.

Doch tatsächlich ist «Asexualität» ein Überbegriff, der viele verschiedene Empfindungen gegenüber Sexualität enthalten kann. Wäre mir das bewusst gewesen, hätte ich wahrscheinlich viel früher realisiert, dass ich asexuell bin!

Die offizielle Definition lautet wie folgt:

Eine Person ist asexuell, wenn sie keine oder fast keine sexuelle Anziehung verspürt.

Es gibt Quellen, die obige Definition noch erweitern:

Eine Person ist asexuell, wenn sie keine oder fast keine sexuelle Anziehung verspürt und/oder (fast) kein Interesse an und Bedürfnis nach Sex hat.

Ironischerweise ist diese Definition für asexuelle Menschen nicht so verständlich wie für allosexuelle Menschen («allosexuell» bezeichnet das «Gegenteil» von asexuell). Denn der zentrale Punkt der Definition, nämlich sexuelle Anziehung, ist für einen Asexuellen ja eben unbekannt! Woher weiss er denn nun, ob er es empfindet oder nicht, wie sich das anfühlt, was genau damit gemeint ist?

Sexuelle Anziehung zu einer Person führt zum Wunsch oder der Vorstellung, mit dieser Person Sex zu haben.

Sexuelle Orientierungen

Asexualität ist eine sexuelle Orientierung. Dies wird klar, wenn es mit bekannteren sexuellen Orientierungen verglichen wird. 

Ich möchte anmerken, dass ich in folgender Tabelle von mehreren Geschlechtern spreche. Auch dies ist etwas, was in der Gesellschaft noch ziemlich unbekannt ist; doch es gibt, auch rein biologisch gesehen und nicht «nur» gender-mässig, mehr Geschlechter als einfach weiblich und männlich.

Fühlt sexuelle Anziehung zu einem anderen Geschlechtheterosexuell
Fühlt sexuelle Anziehung zum selben Geschlechthomosexuell
Fühlt sexuelle Anziehung zu mehreren Geschlechternbisexuell
Fühlt sexuelle Anziehung unabhängig vom Geschlecht (fühlt sich von Personen/ Persönlichkeiten angezogen, nicht vom Geschlecht)pansexuell
Fühlt keine sexuelle Anziehungasexuell
Die verschiedenen Arten von Anziehung

Bei einer sexuellen Orientierung geht es also darum, ob und von wem sich eine Person sexuell angezogen fühlt und beschreibt als solche NICHT, ob jemand Sex wünscht oder hat, mit wem er Sex hat, wie stark seine Libido oder sein körperliches Bedürfnis nach sexueller Befriedigung ist oder ob er erregt werden kann. Noch weniger sagt es etwas über die Fähigkeit und den Wunsch, sich zu verlieben, aus – dazu später mehr.

Drei Schwierigkeiten, zu verstehen, dass man asexuell ist

Ich kann drei Verständnisfehler identifizieren, die es mir unmöglich gemacht haben, früher darauf zu kommen, dass ich asexuell bin – abgesehen vom vierten Punkt, dass die Thematik bei weitem nicht so bekannt und sichtbar ist wie etwa Homosexualität.

Um (die eigene) Asexualität zu verstehen, müssen Empfindungen und deren Bezeichnungen, die meistens zusammen auftreten und von den allermeisten Menschen als untrennbar empfunden werden, als voneinander unabhängige Empfindungen erkannt werden. Ja, sie korrelieren stark, sind aber nicht verschiedene Bezeichnungen für dasselbe, sondern können unabhängig voneinander vorhanden sein oder auch nicht oder nur teilweise. 

1) Sexuelle Anziehung und Lust sind nicht dasselbe.

Sexuelle Anziehung besagt, ob eine Person, wenn sie jemand anderes sieht, sich von dieser Person sexuell angezogen fühlt oder nicht. Ob sie also beim Anblick der betreffenden Person den Wunsch oder die Vorstellung hat, mit ihr Sex zu haben. Es besagt aber nicht, ob generell rein körperliche Lust vorhanden ist, wie stark die Libido/das Verlangen nach Sex ist oder ob jemand tatsächlich Sex hat und mit wem. Verschiedene Leute haben ein unterschiedlich starkes Bedürfnis nach Sex, ganz unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. 

Eine Person kann…

  • mit ihrem/n Partner/n Sex haben und ihn auch geniessen. 
  • ein körperliches Bedürfnis nach sexueller Befriedigung haben, die sie selbst oder mit jemand anderem befriedigen möchte oder auch unbefriedigt lassen will.
  • ein fehlendes sexuelles Interesse haben und keinen Sex wünschen.
  • sich für andere freuen, wenn sie Sex haben, selber aber keinen wünschen.
  • sich bei der Vorstellung von Sex im Generellen abgestossen fühlen.

Dies gilt für Menschen jeglicher sexueller Orientierung. Wie schon in der erweiterten Definition erwähnt, haben asexuelle Menschen tendenziell wenig bis kein Interesse an Sex, doch dies muss überhaupt nicht so sein. Auch, wenn wenig Interesse vorhanden ist, kann eine Asexuelle mit ihrem/r/n Partner/in/en Sex haben und ihn geniessen.

2) Es gibt neben der sexuellen Anziehung noch weitere Arten von Anziehung

Wenn man etwas nicht kennt und in seinem ganzen Leben nie verspürt hat, dann kommt man kaum von selbst auf die Idee, dass es existieren könnte. 

Es ist Teil der Sozialisierung eines Menschen, dass er Beschreibungen von Gefühlen anderer mit seinen eigenen Erfahrungen vergleicht, um andere und sich selbst besser zu verstehen.

Eine asexuelle Person hört Mitmenschen von schönen Augen und knackigen Pos schwärmen, hört Geschichten, wie toll ein Mitschüler sei oder wie attraktiv ein Mädchen aus dem Sportverein. Um diese Geschichten einzuordnen und zu verstehen, vergleicht sie sie mit ähnlichen eigenen Erfahrungen. Dabei ist es wahrscheinlich, dass sie Anziehungen, die sie selber spürt und die nicht sexuell sind, aber ähnlich genug oder aber oft in Kombination mit sexueller Anziehung auftreten (etwa Verliebtsein oder ästhetisch hübsch finden), als das einordnet, von dem andere sprechen. 

In solchen Fällen merkt eine asexuelle Person unbewusst wahrscheinlich, dass es nicht ganz dasselbe Empfinden sein kann. Etwa, weil sie nicht selbst merkt, wann ein Po knackig ist, sondern das lernen musste, oder weil sie nicht versteht, warum denn alle so ein Theater um Anziehung und Attraktivität machen.

Es gibt also verschiedene Arten von Anziehung. Unterschiedliche Personen verstehen in unterschiedlichen Situationen verschiedene (Kombinationen von) Arten von Anziehung.

Sexuelle AnziehungWunsch, mit jemandem Sex zu haben
Sinnliche AnziehungWunsch, mit jemandem körperlichen (aber keinen sexuellen) Kontakt zu haben
Romantische AnziehungWunsch, mit jemandem eine romantische Beziehung zu haben
Ästhetische AnziehungJemanden ästhetisch ansprechend finden
Platonische AnziehungWunsch, mit jemandem eine platonische Freundschaft zu haben (oder allgemeiner, eine nicht sexuelle und nicht romantische Beziehung zu haben)

3) Romantische Anziehung

Eine der unter Punkt 2 genannten Anziehungen ist die romantische Anziehung. Es bedeutet, mit jemandem eine romantische Beziehung zu wünschen. Zusammen zu kochen, Sport zu machen, Filme zu schauen. Vielleicht zusammen zu wohnen und gemeinsam an Geburtstage eingeladen zu werden. Sich nahe zu sein, zu vertrauen und sein Leben miteinander zu teilen.

Ich glaube, für die meisten Menschen bedeutet verliebt zu sein, primär sexuelle und romantische Anziehung zu jemandem zu spüren.

Ich möchte darauf nicht weiter eingehen, aber dennoch erwähnen, dass es, analog zur sexuellen Orientierung, eine romantische Orientierung gibt. Man kann ebenso hetero-, homo-, bi-, pan- und aromantisch sein. Auch ist es möglich, dass die Präfixe der sexuellen und das der romantischen Orientierung nicht übereinstimmen.

Asexualität ist ein Überbegriff

Per Definition ist eine Person asexuell, wenn sie keine sexuelle Anziehung verspürt. Alles andere ist in dieser Definition nicht spezifiziert, was einen grossen Spielraum für unterschiedliche Empfinden lässt, die alle unter den Begriff «Asexualität» fallen. Tatsächlich ist «Asexualität» eine Bezeichnung für ein ganzes (nicht lineares) Spektrum. Neben asexuell sind die bekanntesten Bezeichnugen in diesem Spektrum grau asexuell und demisexuell. 

Grau asexuell bedeutet, dass jemand sexuelle Anziehung verspürt, aber weniger stark oder weniger oft als eine allosexuelle Person.

Demisexuell ist eine Person, die nur dann sexuelle Anziehung jemandem gegenüber verspürt, wenn eine emotionale Verbindung vorhanden ist. Im Internet gehen die Meinungen auseinander, wie stark diese emotionale Bindung sein muss (von «sich irgendwie kennen» bis zu «sehr enge emotionale Bindung»).

Asexualität ist keine medizinische Störung

Wer sich über Asexualität informieren möchte, trifft oft eher früher als später auf Quellen, die sich mit HSDD (Hypoactive Sexual Desire Disorder / Hyposexualität) respektive ISD (Inhibited Sexual Desire) beschäftigen. HSDD ist ein medizinischer Begriff und beschreibt den anhaltenden oder wiederkehrenden Mangel an (oder Fehlen von) Verlangen nach sexueller Aktivität, primär bei Frauen. Die momentanen „Symptome“ mögen ähnlich sein, doch es gibt einen grossen Unterschied zwischen Asexualität und HSDD. HSDD ist eine medizinische Störung und beschreibt das Fehlen sexueller Lust bei Personen, die ursprünglich sexuelle Lust kannten. Aufgrund von Stress, hormoneller Störungen oder anderer Krankheiten kann es sein, dass die Lust verschwindet. Da dies ernsthafte medizinische Ursachen haben kann, ist es wichtig, dem auf den Grund zu gehen. 

Asexualität hingegen definiert sich über das Fehlen sexueller Anziehung (nicht unbedingt der Lust, wenn es auch wie gesagt oft gemeinsam vorkommt), und ist meist von Geburt an gegeben. Eine sexuelle Orientierung ist weder eine Krankheit noch eine Wahl. Sie ist auch nicht das Ergebnis einer irgendwie gearteten traumatischen Erfahrung aus der Kindheit.

Die sexuelle Orientierung ist Teil eines Menschen, wie er auf die Welt kommt, genauso wie die Körpergrösse oder das Talent zum Spielen eines Musikinstruments.

Weil sie keine krankheitsbedingte Ursache hat, kann und muss nicht „geheilt“ werden.

Schlussworte

Vielleicht hast du dich in dem Artikel wiedergefunden und gemerkt, dass du asexuell sein könntest. Das ist völlig in Ordnung und es gibt noch andere, die so fühlen wie du. Du fühlst keine sexuelle Anziehung, so wie andere vielleicht keinen Drang zum Tanzen zu deiner Lieblingsmusik fühlen. Du musst dich deswegen weder schlechter noch besser fühlen als andere. Du musst auch nicht das Gefühl haben, dich vor irgendjemandem rechtfertigen zu müssen. Du bist nicht krank und du musst und kannst nicht «geheilt» werden.

Es kann dir helfen, dich zu verstehen (so, wie es mir hilft, mich zu verstehen), aber die Asexualität macht dich nicht aus. Du bist in erster Linie einfach du, ein Mensch mit vielen Facetten, und du bist wunderbar.

2 Replies to “Asexualität”

  1. Liebe Nella,
    Danke für den spannenden Beitrag über ein Thema, worüber kaum bis nie gesprochen wird. Und meine Bewunderung, dass du so offen darüber berichtest!
    Tolles und wunderschönes Schlusswort ❤

  2. Liebe Nella, vielen Dank für diesen sehr ausführlichen Artikel über ein nicht alltägliches Thema, welcher mir sehr hilft, offen zu sein für eine menschliche Facette, über die ich mir bislang noch nicht viele Gedanken gemacht habe.
    Danke für das sehr schöne Schlusswort!

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